Passagen des Experiments

2. Die Verschachtelung von Zeiten

Die heterogenen Komponenten wissenschaftlicher und künstlerischer Experimente verfügen über jeweils eigene Zeitlichkeiten: Modell und Versuchsobjekt, Leinwand und Messingtrommel, Gestell und Instrument benötigen, ebenso wie die einzelnen Arbeitsschritte eines Experiments (Vorbereitung, Beobachtung, Auswertung usw.), unterschiedlich große Zeitspannen, um ihre Wirksamkeit zu entfalten. Auch die Ausbildung eines Künstlers oder Wissenschaftlers nimmt mehr Zeit in Anspruch, als die Durchführung eines einzelnen Experiments, die Abfassung einer Vorläufigen Mitteilung“ oder das Anfertigen eines Holzschnitts, aber vermutlich weniger als die Einrichtung und Ausstattung einer Institution (Akademie, Institut etc.).

Insbesondere im Blick auf die Lebenswissenschaften kann die Praxis des Experimentierens als kritische Synchronisation von diversen Eigenzeiten aufgefaßt werden. Wie James Griesemer und Grant Yamashita (1999) in bezug auf die Geschichte biologischer Institutionen gezeigt haben, liegt den dort stattfindenden Produktionen von Wissen ein Zeitmanagement zugrunde, mit dem die ”Zeit des Phänomens”, die ”Zeit des Untersuchers” und die ”Zeit der Studie” in Übereinstimmung gebracht werden. So stellte (und stellt) in der evolutionsbiologischen Forschung die Zeit, welche Modellorganismen zu ihrer Reproduktion benötigen, ein Problem dar, das in unterschiedlicher Weise bewältigt wurde: durch die Wahl des Modellorganismus und die Gestaltung seiner Umgebung, durch das Dehnen der Untersucherzeit, durch die Intensivierung und Kompression der Phänomenzeit.

Aber nicht nur Institutionen, auch einzelne Experimente können in Hinsicht auf das mit ihnen gegebene Zeitmanagement untersucht werden. Der oben abgebildete ”Spirometer”, den Charles Verdin 1882 nach Angaben von Paul Regnard konstruierte, war zur physiologischen Untersuchung von Atemprozessen beim Menschen bestimmt. Der Atemmesser sollte es ermöglichen, die Menge der ausgeatmeten Luft zu bestimmen, dabei die Lungenbewegungen aufzuzeichnen und zugleich die Zeit zu registrieren, in der die Atmung sich vollzog. In Regnards Experimentalaufbau wird dafür nicht nur die Frequenz einer Organfunktion (das Atmen) mit der Bewegung eines Uhrenpendels in Verbindung gesetzt, der Aufbau kombiniert auch die Umdrehungsgeschwindigkeit der Kymographentrommel (die ihrerseits durch ein Uhrwerk angetrieben wird) mit der Leistungsdauer der galvanischen Elemente. Ferner gehen in dieses Experiment das Alter der Versuchsobjekte (Kind, Erwachsener) und, vermittelt über Klima und Temperatur, sogar die Jahreszeiten als bestimmende Momente ein. Nur ein Teil dieser Zeitverhältnisse wird aber an den Schreibern fokussiert, die die erhobenen Daten in koordinierter Weise notieren; ein anderer Teil wird als uninteressante, ”selbstverständliche” Voraussetzung im wissenschaftlichen Diskurs kaum ausdrücklich. Erst im Blick auf die Gesamtheit der Zeitverhältnisse einer Versuchsanordnung kann aber die Frage beantwortet werden, an welcher Stelle in einem komplizierten Gefüge von Rhythmen und Takten die Differenz entsteht, die schließlich als wissenschaftliche Tatsache verbucht werden kann.

In Photographie und Film wird die Synchronisation von diversen Eigenzeiten zu einem fast alltäglichen Problem. So muß die Zeit der Belichtung, d. h. die durch Film und Apparat (Objektiv, Blende etc.) vorgegebene Zeit, mit der Zeit des zu photographierenden oder zu filmenden Motivs ebenso abgestimmt werden wie mit der Dauer des künstlichen oder natürlichen Lichts und den Gegebenheiten der Filmentwicklung. Wenn die Kunst mancher (auch wissenschaftlicher) Photographien auf die genaueste Synchronisation solcher Eigenzeiten zurückzuführen ist, werden in anderen ”Zeitbildern” gerade durch die Auflösung von Zeitverhältnissen besondere Effekte erzielt. Kurzzeitphotographen wie A. M. Worthington und Harold Edgerton versuchten, schnelle Bewegungen im Bild "einzufrieren", nicht zuletzt, um dadurch Ausgangspunkte für neue Zeitkonstruktionen qua Reihenbildung zu gewinnen. Umgekehrt nutzten Photodynamiker wie Antonio Bragaglia, aber auch Arbeitswissenschaftler wie Frank Gilbreth Langzeitbelichtungen dazu, Bewegungen ”als Bewegungen” zu dokumentieren. Was anderen als Mängel der photographischen Aufnahme erschien, wurde diesen Photographen zum aufschlußreichen Phänomen: das Dunkle, Unscharfe, Verwischte.

Die genaue oder die (gewollt oder ungewollt) ungenaue Abstimmung vielfältiger Zeiten in und durch Experimentalaufbauten, die experimentelle Organisation und Desorganisation von Zeit, bildet einen zweiten Aspekt des Tagungsthemas.



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