24./25. Mai 2002

Passagen des Experiments
Die Materialität der Zeitverhältnisse in Lebenswissenschaften, Kunst und Technik (1830-1930)

Experimentalanordnungen sind Zeit-Maschinen, mit François Jacob gesprochen, "Maschinen zur Herstellung von Zukunft". Einerseits isolieren sie Sachverhalte von Umständen, um sie in konstanten Formen erfassen und Variationen unterwerfen zu können. Andererseits verfügen sie über eine Durchlässigkeit, die den "Einbruch des Unvorhergesehenen" (Rheinberger) ermöglicht. Die Materialität experimenteller Zeitverhältnisse zeigt sich in der Wissenschaft ebenso wie in der Kunst: Wenn Marcel Duchamp ein Gefüge aus Glas, Holz und Farbe über Jahre hinweg in seinem Atelier stehen läßt, um den sich darauf ansammelnden Staub schließlich ins Kunstwerk miteinzubeziehen, wenn Hermann von Helmholtz galvanische Elemente, Froschmuskeln und Messingtrommeln kombiniert, um die Geschwindigkeit von Nervenimpulsen aufzuzeichnen, dann wird Zeit nicht als lineare Größe zugrundegelegt, sondern eine Vielfalt von Zeiten wird in produktive Verhältnisse der Vorwegnahme und Nachträglichkeit gebracht: die Zeit der Objekte und Modelle, die Zeit des Beobachters, die Zeit der Instrumente, die Zeit ihres Antriebs und ihrer Versorgung, die Zeit des sich zeigenden Phänomens, die Zeit seiner Registrierung und Speicherung, und schließlich die Zeit der darauf Bezug nehmenden Aussagen, seien diese nun textlich oder bildlich verfaßt.

In den letzten Jahren sind in Wissenschaftsgeschichte und Kulturwissenschaft vielfältige Anstrengungen unternommen worden, die realen und symbolischen Räume des Wissens zu erkunden. Mit der geplanten Tagung soll das Problem der Zeit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden. Unter Bezug auf jene Lebenswissenschaften, Künste und Techniken, die sich im Zeitraum von ca. 1830 bis ca. 1930 um die "Experimentalisierung des Lebens" konfigurierten, soll dabei vor allem die Äußerlichkeit von Zeit thematisiert werden. So wird es nicht um die Frage gehen, wie sich die menschliche Wahrnehmung von Zeit verändert (oder nicht verändert) hat. Zeit soll auch nicht als eine für sich bestehende, "vierte" Dimension verstanden werden, die bloß abzubilden, widerzuspiegeln wäre. In Frage stehen wird vielmehr das Gemachte, das Konstruierte von Zeit:

In welchen "materiellen Kulturen" wurde Zeit in den Labors von experimentierenden Physiologen und Phonetikern organisiert (und desorganisiert), und wie geschah dies in den Ateliers von Bildhauern und Architekten? Welche Geschichten sind in diesem Zusammenhang von der Herstellung und dem Vertrieb von Uhren und anderen Zeitmessern im 19. Jahrhundert zu erzählen, wie z.B. drangen die Produkte der Uhrenindustrie in den Arbeitsalltag von Wissenschaftlern und Künstlern ein? Wie wurde die Verteilung von Zeit in der Öffentlichkeit der Großstädte sichergestellt, und wie griff sie in die relativ abgeschlossenen Stätten wissenschaftlicher und künstlerischer Produktion ein, um sich schließlich auch in die Diskurse einzuprägen? Wie wurde im Museum, im Archiv und in ähnlichen Institutionen, Zeit "ding-fest" gemacht, und wie wurden die zu Sequenzen sortierten Dinge wissenschaftlich oder künstlerisch produktiv?

Am Leitfaden solcher Fragen sollen aus der Perspektive von Wissenschafts-, Kunst- und Technikgeschichte Beiträge zur Geschichte jener Dinge erarbeitet werden, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert der Produktion, Koordination und Distribution von Zeit dienten. Themenschwerpunkte können dabei sein:

1. Zeitliche Konstrukte (Instrumente, Apparate, Dinge)

2. Die Verschachtelung von Zeiten (Experimente, Laboratorien, Ateliers)

3. Netzwerke der Zeit (Uhrensysteme, Zeitdiskurse)

Die geplante Tagung wird die zweite öffentliche Veranstaltung des Projekts "Die Experimentalisierung des Lebens: Konfigurationen zwischen Wissenschaft, Kunst und Technik (1830-1930)" sein. Dieses Projekt basiert auf einer Initiative des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte (Abt. III), Berlin, und wird von der VolkswagenStiftung, Hannover, gefördert. Es wird in Kooperation mit dem Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik an der Humboldt-Universität Berlin, der Fakultät Medien an der Bauhaus-Universität in Weimar und dem Programm für Wissenschaftsgeschichte und -philosophie an der Stanford University, Kalifornien, durchgeführt.


Kontakt:
Dr. Henning Schmidgen
Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte
Wilhelmstrasse 44
D-10117 Berlin

Phone: (+49-30) 22 66 7 118
Email: schmidg@mpiwg-berlin.mpg.de




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