Passagen des Experiments

1. Zeitliche Konstrukte

Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde eine Vielzahl von Apparaten konstruiert, mit deren Hilfe Zeit gemessen und berechnet, aufgezeichnet und verteilt wurde. Neben einer expandierenden Uhrenindustrie entwickelten Erfinder“ wie Charles Wheatstone oder Matthäus Hipp neuartige Präzisionszeitmesser, die alsbald in die Labors von Physiologen und Psychologen übernommen wurden. Um 1850 griff Helmholtz, in seinen Untersuchungen zur Geschwindigkeit der Fortpflanzung von Nervenimpulsen, auf Versuchsanordnungen zurück, die zuvor in Physik und Ballistik verwendet wurden (Breguet, Pouillet, Siemens), adaptierte sie aber für seine spezifischen, lebenswissenschaftlichen Interessen. Viele physiologische und psychologische Zeitmeßversuche machten sich darüber hinaus die Wirksamkeit von Dingen zunutze, die im weitesten Sinne der Kunst zuzurechnen sind. So avancierte die Stimmgabel, die zunächst von Musikern entwickelt und verwendet wurde, seit den 1860er Jahren zu einem der prominentesten Instrumente experimentierender Lebenswissenschaftler. Und in den Versuchen eines Sigmund Exner, Carl Stumpf und Alfred Binet fungierten tuning forks nicht nur als Erzeuger von Tönen, deren Empfindung und Wahrnehmung dann sinnesphysiologisch untersucht werden konnten. Sie dienten ebenso zur Registrierung von Zeit: Am "Tonometer" geeicht, erlaubten es die konstant schwingenden Gabeln, exakt definierte Bruchteile von Sekunden auf Kymographentrommeln abzuzeichnen.

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert ist solches Sequenzieren von Spuren eines der entscheidenden Verfahren bei der wissenschaftlichen und künstlerischen Konstruktion von Zeit gewesen. Dies zeigt sich u.a. an den Reihungen von Bildern, aus denen Wissenschaftler und Künstler offenbar gleichermaßen neues Wissen generieren konnten. Wenn sich Eadweard Muybridge explizit um eine ”Chronophotographie” bemühte (die in ihren technischen Details sicherlich mehr als ein bloßes "picturing of time" war), dann war dies allerdings nur ein Aspekt einer allgemeineren technisch-kulturellen Arbeit an bzw. mit Zeit. Muybridge verbesserte bekanntlich nicht nur die Technik der Kameraverschlüsse, sondern baute auch ein pneumatisches Uhrensystem, das der Verteilung von Zeit in San Francisco dienen sollte.

Und nicht nur Bilder, auch andere Objekte konnten durch Serialisierung neue Erkenntnisse generieren. So bildete für Naturgeschichtler, Archäologen und Ethnologen die Sammlung von Funden und ihre Anordnung zu "formalen Sequenzen" (Kubler 1982) den Boden der Tatsachen, auf dem sie ihr Wissen, z. B. um die Entwicklung von Stilen und Kulturen, gewinnen konnten. Und solche Reihen von "Zeit-Dingen" wurden in Museen und Archiven nicht nur planvoll konstruiert, die Geschichte der materiellen Kultur zeigt vielmehr, daß die Reihen sich auch gleichsam von selbst, d.h. jenseits oder diesseits der Intentionen menschlicher Akteure, konstruieren und dekonstruieren konnten. Dies gilt nicht nur für fossile und andere Ablagerungen. Uhren, Bilder und Skulpturen waren, wie andere Dinge auch, der Abnutzung, der Alterung und dem Verfall ausgesetzt, was wiederum zum aufschlußreichen Index für Zeitlichkeit werden konnte.

Welche Materialien erwiesen sich bei der Verfertigung zeitlicher Konstrukte als besonders dankbare Generatoren, Träger und Speicher von Zeit? Welche anderen Stoffe haben sich dafür als unzulänglich herausgestellt? Was waren die Fertigkeiten, die in die Herstellung von Zeit eingingen? In welchen lokalen Kontexten erfolgte die wissenschaftliche und künstlerische Konstruktion von Zeit, und welche Schwierigkeiten gab es bei ihrer Aneignung und Weitergabe? In welchen Konstellationen nahmen Künstler und Wissenschaftler sich die Zeit, um eigens Dinge zu konstruieren, die ihnen scheinbar doch nur wieder Zeit geben sollten, wenn auch in anderer, ”präziserer” oder ”schönerer”, Form? Wie und von wem wurden die Dinge gesammelt und die Spuren fixiert, die in ihrer Reihung Zeitprozesse kenntlich werden ließen, die dann als ”epistemische” und/oder ”ästhetische” qualifiziert wurden? Solche Fragen orientieren auf einen ersten Aspekt des Tagungsthemas.



top