Passagen des Experiments

3. Netzwerke der Zeit

Die Materialität der Zeitverhältnisse ist nicht auf das experimentelle Arbeiten in physiologischen Labors und futuristischen Ateliers begrenzt. Im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erleben die materiellen Kulturen der Zeit insgesamt eine erhebliche Ausdehnung und Verbreitung. Die Uhrenproduktion wird rationalisiert (d.h. auch: beschleunigt), verkoppelte Uhren werden in den Straßen und auf den Plätzen großer Städte verteilt, Eisenbahnlinien und Telegraphenverbindungen werden mit Zeitsystemen verbunden. Uhren an Werkstoren, in Fabrikhallen und Büros strukturieren den Arbeitstag. Wohnräume werden mit großen Uhren geschmückt, und über die massenhafte Verbreitung von Taschen- und Armbanduhren dringen die zeitlichen Dinge bis nah an den menschlichen Körper vor. Ende des 19. Jahrhunderts mehren sich die Bemühungen um die Standardisierung und Vereinheitlichung von Zeit; fast im selben Zeitraum wird der Begriff der linearen Zeit in Physik und Philosophie jedoch deutlich relativiert.

Einer These Peter Galisons zufolge besteht ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Entwicklungen. Einsteins Aufsatz ”Zur Elektrodynamik bewegter Körper” (1905), ist, Galison zufolge, vor dem Hintergrund jener Anlage koordinierter Uhren zu verstehen, mit der Einstein bei seinem täglichen Gang durch das Bern der Jahrhundertwende umgeben war und mit deren technischen Einzelheiten er durch seine Arbeit im Patentamt vertraut war. ”Wie kann man sagen, daß zwei entfernte Ereignisse gleichzeitig sind?” Nach Galison entstammt diese Frage von Einstein nicht einer kindlichen Begeisterung für Züge und Eisenbahnen (wie der Physiker selbst suggerierte), sondern aus dem alltäglichen Umgang mit dem System elektrischer Uhren, das um 1890 in der Berner Innenstadt installiert worden war: Es reichte von den Türmen und Plätzen der Stadt bis hin zum Bahnhof und in die Bundesbehörden.

Im Anschluß an diese Argumentation läßt sich allgemeiner fragen, wie die Netzwerke der Zeit, an deren Einrichtung Industrielle, Wissenschaftler und Ingenieure gemeinsam arbeiteten, in die diskursiven und non-diskursiven Praktiken von experimentierenden Künstlern und Lebenswissenschaftlern eingegriffen haben. Zunächst betrifft dies die Ebene der ”stummen Praxis“: Zu welchem Zweck wurden Uhrensysteme in die physiologischen Laboratorien eines Angelo Mosso (Turin) und eines John N. Langley (Cambridge) eingeführt? Wie drang die standardisierte Zeit in die scheinbar abgeschotteten Welten des Museums und des Archivs ein? Wann wurden Datums- und Zeitangaben in Gemälde und Photographien aufgenommen, und welchen Zweck erfüllten diese Datierungen? Dann ist auf der Ebene der Texte und Bilder zu fragen: An welchen Stellen haben die materiellen Kulturen der koordinierten Zeit Abdrücke auf den Theorien und Fiktionen hinterlassen, die um die Jahrhundertwende immer expliziter das Problem der Zeit zum Gegenstand hatten (Bergson, Wells, Proust etc.)? Wie sah der Alltag in den Zeitkulturen aus, die den Hintergrund für die Romane eines Raymond Roussel, die Skulpturen eines Alexander Calder bildeten?



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