Henning Schmidgen
Chronos und Psyche: Die Geschichte der physiologischen und psychologischen Zeitforschung


Dieses Projekt untersucht die diskursiven und non-diskursiven Praktiken, welche Psychologie, Technologie und Architektur im 19. und 20. Jahrhundert verbunden haben. Der Fokus liegt dabei auf den wettstreitenden Formen psychologischer Zeitmeß-Experimente in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Ziel ist es, unterschiedliche materielle Kulturen psychologischer Zeitmessungen und deren epistemologischen Voraussetzungen zu erkunden, insbesondere mit Blick auf das Verhältnis von Subjektivität und Zeit.

Ausgehend von einem der erfolgreichsten Präzisionszeitmesser, des sog. Chronoskops, wird den Abstammungslinien dieses Instruments nachgespürt. Dabei werden überraschende Verbindungen zwischen der Psychologie und anderen Disziplinen, wie der Physik oder der Chemie, sichtbar. So wurde das Chronoskop, bevor es in psychologischen Laboratorien Verwendung fand, im Physikunterricht eingesetzt, um die Gesetze der Schwerkraft zu demonstrieren. Zudem stellte die performative Kultur der experimentellen Chemie eines der entscheidenden Vorbilder für das psychologische Experiementieren dar.

Wie die Technologie, so spielte auch die Architektur eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der experimentalpsychologischen Forschung. Durch die Anordnung getrennter Räume für spezielle Forschungsthemen unterstützte das psychologische Labor eine neue Organisation wissenschaftlicher Aktivität. Diese Anordnung entsprach zum Teil der Anordnung von Themen in psychologischen Lehrbüchern. Auf der Suche nach disziplinärer Unabhängigkeit, definierten sich psychologische Laboratorien dabei in Abgrenzung zu Räumen wie der Klinik und der Leichenhalle. Dies wurde auch in den Diskursen über die Einheit der Disziplin reflektiert.

Eine entscheidende epistemologische Voraussetzung für die Messung psychologischer Zeit war die Auffassung des Psychischen als wesentlich "flüssig" oder "fließend". Im Anschluß an Kants transzendentale Ästhetik, thematisierte Johann Friedrich Herbart "die Schwankungen und den Fluß der psychischen Tatsachen". Von Herbarts Versuch, den Lauf der geistigen Ereignisse zu mathematisieren setzte sich Wilhelm Wundt ab. Wundt wandte sich der experimentellen Untersuchung psychischer Zeitverhältnisse zu. Mit dieser Wendung setzt sich die Experimentalpsychologie von den Praktiken der zerebralen Lokalisation des frühen 19. Jahrhunderts ebenso ab wie von der Neuropsychologie des 20. Jahrhunderts.