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Psychotechnik und Russische Avantgarde.
Über die Konvergenz von Wissenschaft, Kunst und Technik
in den Wahrnehmungsexperimenten im Russland der 1920er Jahre Im postrevolutionären Russland wird das Leben zum Experiment. Die russische Avantgarde versteht bekanntermassen die neue kommunistische Gesellschaft als quasi-künstlerische Versuchsanordnung, wenn sie nach formalistischem Ideal die "Kunst als Verfahren" der Sichtbarmachung einsetzt, die automatisierte Wahrnehmung des unterdrückten Arbeiters mittels künstlerischer Verfremdung zu befreien zugunsten eines "aufgeklärten Proletariers". Weniger bekannt ist, dass den Künsten bei dieser Experimentalisierung jene Lebenswissenschaften sekundieren, die im Laufe des 19. Jahrhunderts schnelle Verbreitung in Russland finden: Psychologie, Psychophysik, Physiologie und in den 20er Jahren vor allem - die Psychotechnik. Allen Disziplinen gemein ist das mit einmaliger Konsequenz gesteckte Ziel, dem neuen, weil revolutionierten Menschen eine ebenso neue Lebensumwelt zu schaffen, und das heisst zu allererst neue Rahmenbedingungen der visuellen Wahrnehmung. Im Zuge dessen studiert der Architekt Nikolai Ladowskij am VChUTEMAS (Höhere Künstlerisch-Technische Werkstätten) die "Psychotechnik" der Wahrnehmung mittels experimenteller Anordnungen: Er installiert in einem gänzlich schwarz gestrichenen Raum eine Reihe von Geräten, "Glasometri" (Augen-Meter), mit denen er dann die Wahrnehmung von Linien, Winkeln und Räumlichkeit selbst mißt. Die Formulare zu den Experimenten tragen die Messfaktoren "Aufmerksamkeit", "Erinnerung", "Wahrnehmungsmessungen", "Räumliche und motorische Fähigkeiten", also sowohl physiologische als auch psychologische Kriterien. Wsewolod Pudowkins Film "Die Mechanik des Gehirns" dokumentiert Pawlows physiologisches Labor (1926), um der breiten Bevölkerung sowohl die Mechanismen der Reflexologie wie die Mechanik seiner Filmapparatur zu vermitteln. Alexander Bogdanow verbindet das kulturelle Experiment mit der "Experimentalisierung des Lebens" am folgenreichsten, wenn er nach jahrelanger Auseinandersetzung mit der Kunst wieder zurückkehrt zu Versuchen am lebenden Körper. Bogdanow ist nicht nur Autor von Science-Fiction Literatur, sondern auch der systemtheoretischen Organisationslehre "Tektologie", er initiiert die kulturelle Massenbewegung des "Proletkult" mit – und knüpft schliesslich wieder an die Ursprünge seines Ausbildungsweges an: Als studierter Mediziner gründet er 1926 das "Institut für Bluttransfusionen" in Moskau, wo er 1928 bei einem Selbstexperiment stirbt. Durch diese Beispiele angeregt geht das hier kurz skizzierte Forschungsvorhaben den Konvergenzen der an den genannten Institutionen vernetzten Wissenschaften nach, befragt die von Künstlern und Wissenschaftlern durchgeführten Experimente nach den massgeblichen und eventuell gemeinsamen Techniken. Welchen Einfluss besassen die experimentellen Wissenschaften auf die Künste und umgekehrt, welche Möglichkeiten boten die Künste diesen Wissenschaften? In welchem Verhältnis standen die Leitmedien der Zeit (Photographie und Film) zur Verbreitung der Experimentalkulturen und ihrer Kopplung mit den Künsten? Vor allem aber - inwiefern wirkten sich die besagten Experimente und etwaige Synergieeffekte durch kooperierende Disziplinen tatsächlich auf die Bild- und Textproduktion der Zeit aus und mit welchen Konsequenzen für die klassische Trias Künstler - Werk - Betrachter? |
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