5-6. Dezember, 2002

Verhältnisse von Leben und Leblosigkeit

Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin

Programm

Die experimentelle Erforschung des Lebens begleitet ein beständiger Rekurs auf Unbelebtes. Unbelebtes begegnet dort, wo Lebendiges vergeht bzw. experimentell zum Stillstand gebracht wird, um gerade an den Schauplätzen dieses Verschwindens beobachtbar zu werden: "[...] um zu verstehen, wie Menschen und Tiere leben, ist es unerläßlich, eine große Zahl von ihnen sterben zu sehen" (C. Bernard). So gerät das Leben im 19. Jahrhundert gerade auch als Ableben, in der Durchdringung von Lebendigkeit und Leblosigkeit, Organischem und Anorganischem ins Blickfeld. Eine ganze Serie physiologischer Experimente testet solche Formen hybrider Lebendigkeit systematisch aus: Experimente zur Persistenz organischer Funktionen über den Tod hinaus, zur Existenzform scheintoter Organismen, die "zwar leblos, aber nicht todt" sind (M. Verworn) oder zum Tod der Zelle, die innerhalb des Organismus eine eigene Sterblichkeit zu besitzen scheint.

Eine weitere Form der Durchdringung von Leben und Leblosigkeit begegnet dort, wo organisches Leben auf Gegenstände trifft, die - wie etwa die Apparaturen des Experimentierens selbst - nicht lebendig sind, das Lebendige aber maßgeblich konstituieren. Wie ist etwa die Lebendigkeit eines Versuchstiers zu lokalisieren, das nurmehr im unmittelbaren Anschluß an die Versuchsanordnung atmet und einzig für die Dauer des Versuchs noch überlebt?

Der Frage nach den Schauplätzen des Lebendigen und Leblosen, nach den Orten ihres Auftauchens und Verschwindens soll aus wissenschafts- und kulturgeschichtlicher Perspektive nachgegangen werden. Im Mittelpunkt stehen jene Objekte, Praktiken und Techniken, die Leben und Leblosigkeit entgrenzen, sie miteinander verschränken oder sie auseinander hervorgehen lassen. Diese Figur blieb keineswegs auf die Praxis wissenschaftlicher Experimente beschränkt. So formulieren E. Jentsch und später Freud vor allem an Beispielen der Literatur eine "Psychologie des Unheimlichen", die auf der intellektuellen Unsicherheit darüber beruht, ob ein Ding belebt oder leblos sei. Eine ähnliche Ambivalenz bestimmt die Existenz von Androiden oder Wachsfiguren sowie den Status des Leichnams als "Körperding" (Heidegger).

Fragen nach Erhalt oder Verlust des Lebendigen bestimmen aber auch die Praxis seiner bildlichen und grafischen Fixierung. Physiologen, die wie E.-J. Marey die Praxis der Vivisektion ablehnen, da diese das Leben, um es zu studieren, zuallererst vernichten müsse, sehen sich selbst mit einer anderen Form der Stillstellung des Lebendigen konfrontiert: dem Prozeß seiner graphischen Fixierung, die ebenfalls Funktionen des Lebendigen (wie etwa Bewegung) zuallererst zum Stillstand bringen muß, um sie beobachtbar zu machen. Dem Verhältnis von Leben und Leblosigkeit ist deshalb auch dort nachzugehen, wo Funktionen des Lebens erst in der Herstellung und Auswertung unbelebter Artefakte sichtbar werden.

Seit seiner Entstehung hat vor allem auch der Film Figuren des Untoten hervorgebracht. Über motivische und narrative Aspekte hinaus wäre hier danach zu fragen, inwieweit die Kinematographie selbst als eine Praxis technischer Belebung und (Re-) Animierung ihrer Objekte begriffen wurde, etwa wenn der Filmpionier M. Skladanowsy den Film 1895 als "lebende Photographie" beschreibt und den entsprechenden Projektionsapparat als "Bioskop" patentieren läßt.

Konzepte von Lebendigkeit begegnen schließlich auch in Verbindung mit anorganischen Materialien und Artefakten, die eine solche Assoziation zunächst sehr unwahrscheinlich erscheinen lassen: in Beschreibungen der Großstadt als Lebewesen, in der Betrachtung kunsthistorischer Stilentwickung als eigenständiges "Leben der Form" (H. Focillon), in Beschreibungen von Architektur als Ausdruck eines "unorganischen Lebens" (W. Worringer). In der Untersuchung solcher Entwürfe ist der Frage nachzugehen, inwieweit hier Konzeptionen des Lebendigen vorliegen, die nicht einfach in den einschlägigen Definitionen der Physiolgie aufgehen, sondern eine ganz eigene Vorstellung davon entfalten, was als lebendig oder leblos zu gelten hat.

Kontakt:
Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte
Peter Geimer
Wilhelmstr. 44
D- 10117 Berlin


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