Laborlandschaften. Die Alpen als Medium der Physiologie um 1900.

Die Experimentalisierung des Lebens hat im Laboratorium stattgefunden. Das kann man an klassischem Ort bei Claude Bernard nachlesen, der in seiner Einführung in das Studium der experimentellen Medizin 1865 schreibt: "Jede Experimentalwissenschaft benötigt ein Laboratorium. Dort zieht sich der Wissenschaftler zurück und versucht, mit den Mitteln der experimentellen Analyse Phänomene zu verstehen, die er in der Natur beobachtet hat." Laboratorien sind also Refugien. Sie öffnen experimenteller Forschung einen Freiraum vom undefinierbaren Rauschen der Natur, und gestatten es, isolierte Variablen kontrolliert aufeinander einwirken zu lassen. Daher ist die Geschichte der physiologischen Laboratorien auch immer wieder eine Geschichte von Beruhigungsarbeiten: neuartige oder verfeinerte Laborarchitekturen reagieren auf Geräusche und Ruhestörungen aller Art, um den präzisen Ablauf der Experimente zu perpetuieren

Seit den späten 1870er Jahren aber können namhafte Physiologen bei der Laborflucht beobachtet werden. Aus verschiedenen Richtungen gerät der kaum etablierte Verbund von Laboratoriumsräumen und Vivisektionen am Tierkörper in die Kritik: man moniert die Künstlichkeit und Sterilität seiner Arrangements, seine Ferne von Utilität und Gesellschaft, seine schiere Hässlichkeit - und reagiert mit Anti-Laboratorien. Etienne-Jules Marey baut die Station Physiologique an der Peripherie von Paris, die das Studium organischer Bewegung am Menschen und unter freiem Himmel gestattet. Angelo Mosso - und eine Schule von Nachfolgern - verlegen ihre Wissenschaft in die Landschaft, und das heißt für Akademiker um 1900 meistens: in die Alpen.

Um Forscher, Instrumente und Probanden außerhalb des Laboratoriums funktionsfähig zu halten, sind auf der einen Seite metrologische Anstrengungen notwendig. Nur entlang eines Netzes aus punktuellen Konstanzen und Rechenhaftigkeiten können physiologische Experimente in den Alpen stattfinden, und daher folgt die Wissenschaft den neuen Trassen der Bergbahnen, die die zerklüftete Landschaft mit Schneisen von newtonscher Geradlinigkeit durchziehen. Besonders Versuche zur Energetik des Gehens und Marschierens profitieren von den Schienen.

Auf der anderen Seite muss auch die experimentelle Praxis von der geschützten Referenz Laboratorium auf die gefährliche und unkalkulierbare Referenz Welt umgestellt werden, oder "von den außerutilitären Laboratorien" auf die "Laboratorien des realen Lebens", wie Ossip Brik in den 1920er Jahren formulieren wird. Wie das praktisch und epistemisch vor sich geht: dieser Frage ist mein Dissertationsprojekt im Kern gewidmet. Am Fall Mosso untersucht es, wie das Störende, Irreguläre, Unüberschaubare und Unerwartete zum systematischen Teil einer physiologischen Experimentalpraxis wird. Von den frühen Laborforschungen Mossos zur Physiologie der Emotionen über die ausgedehnten Ermüdungsstudien bis zur Physiologie des Höhenklimas soll die fortschreitende Deregulierung der routinierten Laborepisteme untersucht werden, die Einführung der laborfremden Reize Schock und Schrecken und die komplementäre Verwicklung des lebenswissenschaftlichen Experiments in die neue Konfigurationen des Alltäglichen und in die alte Konfiguration des Erhabenen.