ZwischenRäume 8: Vitalismus/Mortalismus

Arbeitsgespräch der drei Berliner Institutionen Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und Zentrum für Literaturforschung

Organisation und Leitung: Bernhard Dotzler (ZfL), Henning Schmidgen (MPIWG) und Cornelia Weber (HZK)

25. Juni 2004, 14.00-18.00 Uhr
Humboldt-Universität zu Berlin, Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik, 10099 Berlin

Programm

  • Anja Lauper (Bauhaus-Universität, Weimar, Forschungsgruppe "Das Leben schreiben"): Das Blut der Vampire
  • Claudia Blümle (Bauhaus-Universität, Weimar, Forschungsgruppe "Das Leben schreiben"): Kunst und Leben. Zur bildlichen Abstraktion bei Carl Gustav Carus
  • Ingeborg Reichle (HZK): Kunst aus dem Labor. Zum Verhältnis von Kunst und LifeSciences im Zeitalter der Technoscience

Michel Foucault hat in der Geburt der Klinik einen grundlegenden Wandel im Wissen vom Leben beschrieben. Für das 18. Jahrhundert war die Erkenntnis des Lebens in einem Wesen des Lebendigen begründet, von dem auch diese Erkenntnis nur eine Erscheinung war. Daher versuchte man, Erscheinungen wie die Krankheit immer nur vom Lebendigen aus zu denken - sei es im Rahmen mechanizistischer Modelle, sei es im Rückgang auf humorale oder chemische Elemente. Foucault zufolge wurde diese Zirkularität mit der pathologischen Anatomie Xavier Bichats durchbrochen: Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts avancierte die geöffnete Leiche, der Tod, zur dominanten Möglichkeit, dem Leben eine positive Wahrheit zu verleihen. Bichats vielzitierter "Vitalismus" bekommt dadurch eine besondere Bedeutung: "Daß sich das Lebendige auf das Mechanische nicht reduzieren läßt ist sekundär gegenüber dem fundamentalen Band zwischen dem Leben und dem Tod. Der Vitalismus beruht auf einem Mortalismus." Seither, so Foucault, ist der Tod der Spiegel, in dem das Wissen das Leben betrachtet.

Allerdings scheint es die Frage wert, ob der Blick, der in diesen Spiegel geworfen und von ihm zurückgeworfen wird, nur in dieser Form existiert, oder ob er nicht vielfältig sich wandelnde Gestalten kennt, die sein Wissen zur historischen Variable machen. Jedenfalls ist die pathologische Anatomie nur eine Art, den Raum zwischen Leben und Tod auszugestalten. Eine andere - ihr vorhergehende - war die Konzeption des Lebens, welche die Traktatliteratur zum Vampirismus im frühen und mittleren 18. Jahrhundert entwickelte. Dem Mythos wehrend, hatte sie es gleichwohl mit einem Denken zu tun, das im Tode Unsterblichkeit und im Leben den Tod zu erkennen verlangte. Oder wenn heute die Kunst am Schnittpunkt von Life- und Technosciences operiert (wie mehr und mehr Subdisziplinen dieser Wissenschaftsbereiche selber): Gewinnt nicht auch hier eine vormals ungeahnte natura morta wie eine Art mors naturans Realität? Oder schließlich in jenem Anfang des 19. Jahrhunderts selbst. Der Streit zwischen Vitalismus und Materialismus war wohl nicht nur mit Blick auf die fundamentale Rolle des Todes im Wissen vom Leben eine Oberflächenerscheinung. Zugleich erfuhr dieses Wissen an sich eine Mortalisierung, die weniger auf der pathologischen Anatomie - auf geöffneten Leichen - als vielmehr auf der Experimentalisierung des Lebens und deren nur noch durch Abstraktion zu leistenden Darstellung beruht.

So wäre die Geschichte des Wissens von Leben und Tod als die Geschichte eines Zwischenraums par excellence zu beleuchten. Artefakte im weitesten Sinn bevölkern diesen Zwischenraum und formieren damit den Blick, durch den ein Wissen über das Leben generiert werden soll: Zeichnungen und Schemata, aber auch Skulpturen und sogar Architekturen. Damit wird der Zugang zu einer anderen Geschichte geöffnet, einer Geschichte, deren Gegenstand vielleicht die "wunderbare Idee eines anorganischen Lebens" (Deleuze und Guattari) ist, und die als Geschichte selbst, wie Jean-Luc Godard (mit Berufung auf Levi-Strauss und Jacob, Einstein und Kopernikus) einmal sagte, dem Kino gleicht: "Sie ist Nahaufnahme. Sie ist Montage" - ihrerseits also Erkenntnis aus dem Zwischenraum.



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