Freitag, 5. Juli 2002

Zwischenräume 4
Fokus "Parasitäre Verhältnisse"

Zentrum für Literaturforschung
(Jägerstraße 10/11, 10117 Berlin)


14.00
Marie Guthmüller (ZfL, Ästhetisches Wissen)
Un hôte bienvenu?
Das literarische Genie als Parasit der Psychophysiologie


Philipp Felsch (MPIWG, Die Experimentalisierung des Lebens)
Der Löwe kommt.
Nervöse Topologien bei Angelo Mosso

-- Kaffeepause --

16:30
Markus Krajewski (HZK, Bild Schrift Zahl)
Frauen am Rande der Datenverarbeitung.
Franz Maria Feldhaus und seine Weltgeschichte der Technik


Parasitäre Verhältnisse

Wer wird jemals wissen, ob das Parasitentum
ein Hindernis für das Funktionieren des Systems ist
oder gerade dessen Dynamik?

Michel Serres

"Auf einem Bahnhof gibt es Orte, die von Passanten beiläufig und kurzfristig genutzt werden. Während der kurzen Zeit, in der sie auf den nächsten Zug warten, lehnen sie sich an Geländer, Säulen, kleine Kästen und Pfeiler an. Dadurch ziehen sie sich für eine kurze Zeit aus dem unmittelbaren Bahnhofsgeschehen zurück, können dieses jedoch zugleich immer noch beobachten und verfolgen. In diesen Zwischenräumen werden keine bestimmten praktischen Belange verfolgt, sie können im Vorübergehen und ohne körperliche Anstrengungen erreicht werden. Die Grenzen des Rückzugsraums und des stark frequentierten übrigen Raumes liegen eng beieinander."

Berlin, Alexanderplatz, der Bahnsteig der Linie U2: Stella Geppert hat an Stahlträgern und Geländern Polster angebracht. Die Oberfläche der Polster entspricht den üblichen BVG-Bezügen. Die Polster passen sich folglich den rötlichen Tönen des Bahnhofs an, so dass sie im ersten Augenblick kaum auffallen. "In ihrer Gesamtheit bevölkern sie den Bahnhof und bilden ein übergeordnetes System ungewöhnlicher funktionaler Markierungen" (Geppert). Es geht, wie der Titel der Arbeit sagt, um Parasitäre Verhältnisse und Dialoge, um ihre Sichtbarmachung und Erforschung. Gepperts Installation macht nicht nur das Unauffällige auffällig, sondern codiert zugleich die Empirie seiner Wahrnehmung. So bezieht sich die Größe der Polster auf den Nutzungsgrad der "Kontaktflächen", den Geppert aus der durchschnittlichen Körpergröße, der Anlehnhöhe und -fläche ermittelt hat. "Je nach beobachtetem Häufigkeitsgrad der Benutzung variieren die Polster in ihrer Polsterstärke: Je häufiger Personen sich an bestimmte Stellen anlehnen, desto dicker sind die Polster."

Der Gedanke liegt nahe, die gemeinsame Geschichte von Wissenschaft, Kunst und Technik in ähnlicher Weise auf parasitäre Verhältnisse zu beziehen. Daß die Logik der Forschung als "Parasitologie" zu denken ist, hat namentlich Michel Serres elaboriert. Die Wissenschaft findet zu ihren Tatsachen durch planmäßige Beobachtung und systematisches Experimentieren. So will es das immer noch gewohnte Bild. Aber was sind Experiment und Beobachtung anderes als parasitäre Aktivitäten? Der Parasit, das ist die Laus, der Bandwurm oder die Mistel – ein Parasit im biologischen Sinn. Der Parasit ist ferner "ein Gast, der die Gastfreundschaft mißbraucht", der Nassauer, der Schmarotzer: ein Parasit sozialer, politischer Art. Schließlich, ja vor allem ist le parasite die Störung einer Nachricht, das Rauschen im Kanal: "Dieser Parasit ist Parasit im Sinne der Physik, der Akustik oder Informatik, im Sinne von Ordnung und Unordnung, eine neue und, das ist wichtig, kontrapunktische Stimme". Darum, in diesem dritten Sinne, heißen Experiment und Beobachtung parasitäre Praktiken:

"Das Experiment bringt ein Rauschen in die Nachrichten der Black-box, ein Störgeräusch. Man greift nicht ein, ohne zu stören. Das Experiment gewinnt und erschleicht Informationen aus der Black-box, es schmarotzt an ihr".

Nicht nur die Geschichte der Wissenschaften, auch die Entwicklung der Technik kann unter Bezug auf parasitäre Verhältnisse neu oder jedenfalls anders erzählt werden. Schon Samuel Butler versuchte, den homo faber nicht mehr als Herrn und Schöpfer technischer Objekte zu begreifen, sondern als "blattlausartigen Parasiten der Maschine". Es sei kurzsichtig, so argumentierte Butler in seinem Buch der Maschinen, der Technik ein eigenes Fortpflanzungssystem abzusprechen. Allerdings sei dieses System nicht ohne weiteres erkennbar, denn dem Menschen komme darin eine ungewohnte, eine periphere Funktion zu. "[D]ie bloße Tatsache, daß noch nie eine Dampfmaschine vollständig durch eine andere oder durch zwei andere der eigenen Art geschaffen wurde, berechtigt uns nicht zu der Behauptung, Dampfmaschinen hätten kein Fortpflanzungssystem. In Wahrheit wird jedes Teil der Dampfmaschine von besonderen Erzeugern geschaffen, deren Aufgabe es ist, gerade dieses und nur dieses Teil hervorzubringen, während die Zusammenfügung aller Teile zu einem Ganzen eine andere Abteilung des mechanischen Fortpflanzungssystems darstellt." Folgt man diesem Gedanken, dann wäre die Geschichte der Technik in der Tat mit Blick auf ein unvertrautes System von Markierungen, von "Kontaktflächen", neu zu schreiben, dessen Punkte und Linien erst noch empirisch zu ermitteln wären. Konkret: Was motiviert die beiläufige Nutzung, den minoritären Gebrauch großer technischer Systeme (z.B. der Bahnhofsarchitektur)? Sind es die spezifischen Bedürfnisse menschlicher Nutzer, oder sind diese Bedürfnisse nicht vielmehr ein Reflex der scheinbar peripheren Dinge, die so auf ihr Daseinsrecht pochen?

Auch die Weitergabe gesprochener und geschriebener Sprache kann im Rahmen einer allgemeinen Parasitologie behandelt werden. Serres zufolge gibt es kein Gespräch ohne einen Parasiten, gleich ob dieser hemmend oder anregend ist: "Zwischen Wort und Sache bewirkt irgendein Parasit, daß man abschweift". Und wenn die Abschweifung noch gleichsam untergründig, hinter dem Rücken der Beteiligten, wirkt, so gibt es andere Aspekte parasitärer Verhältnisse, die sich deutlicher bemerkbar machen. Was zum Beispiel ist das oft kritisierte und doch selten vermiedene Konzept des "Einflusses" anderes als eine Kategorie der Parasitologie? Die Agenten der Diskurse sagen von sich, einer Gefahr der Ansteckung, der Infektion und Kontamination, ausgesetzt zu sein, vornehmlich durch die "Ideen, die in der Luft liegen". Strategien werden entwickelt, um sich gegen diese Gefahren zu immunisieren, sei es, daß eine diffuse "Einflußangst" (Bloom) entwickelt wird, sei es, daß die Spuren der Influenza in Fußnoten, Kommentaren und Autobiographien nachgezeichnet werden.

Spätestens an diesem Punkt stellt sich die Frage, ob die parasitären Verhältnisse nur "der pathologische Auswuchs irgendeines Gebietes [sind] oder ganz einfach das System selbst" (Serres). Sind Parasiten das Grundelement eines Erkenntnissystems oder dessen Pathologie? Müßte sich die Parasitologie dann nicht konsequenterweise auch selber historisieren, sich selbst als Wirt zu verstehen beginnen, der seine eigenen Gäste noch nicht kennt? Diesen und anderen Fragen sind die Zwischenräume 4 gewidmet.



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