ZwischenRäume 6: Sirenen

Arbeitsgespräch der drei Berliner Institutionen Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und Zentrum für Literaturforschung

Organisation und Leitung: Bernhard Dotzler (ZfL), Henning Schmidgen (MPIWG) und Cornelia Weber (HZK)

4. Juli 2003, 14.00-18.00 Uhr
Hörsaalruine des Berliner Medizinhistorischen Museums, Universitätsklinikum Charité, Campus Charité-Mitte, Schumannstraße 20/21, 10117 Berlin

MPIWG Preprint 253:
Bernhard Dotzler, Henning Schmidgen und Cornelia Weber (Hrsg.):
Parasiten und Sirenen: Zwei ZwischenRäume.
Download: PDF, 1,2 mb

Programm

  • Carola Welsh (ZfL): Die Sirene und das Klavier. Vom Mythos der Sphärenharmonie zur exerimentellen Sinnesphysiologie
  • Thomas Schnalke (Humboldt-Universität, Charité): Stumme Gesänge. Eine Sirene im Berliner Medizinhistorischen Museum
  • Philipp von Hilgers (HZK): "Von der Dopplung der Sirene

"Es ist die Formel für die List des Odysseus, daß der abgelöste, instrumentale Geist, indem er der Natur resigniert sich einschmiegt, dieser das Ihre gibt und sie eben dadurch betrügt." Theodor W. Adorno hat in dieser Weise den Mythos der Sirenen auf seine Rationalisierung durch das homerische Epos hin befragt. "Es ist unmöglich, die Sirenen zu hören und ihnen nicht zu verfallen" - darum läßt Odysseus sich fesseln. Gefesselt kann er zugleich den Sirenen "das Ihre" geben (die "Gewalt seines Wunsches", seine "Hörigkeit": Odysseus "zappelt noch am Mastbaum, um in die Arme der Verderberinnen zu stürzen") und es "neutralisier[en] zur Sehnsucht dessen, der vorüberfährt". Die selbst verfügte Fesselung erscheint so als Signum technischer Aufgeklärtheit wie die technische Aufgeklärtheit eben als Fesselung. Vor allem aber erscheint diese List, Technik oder "Veranstaltung" des Odysseus zuletzt als die alleinige Botschaft der Überlieferung: "Das Epos schweigt darüber, was den Sängerinnen widerfährt, nachdem das Schiff entschwunden ist. In der Tragödie aber müßte es ihre letzte Stunde gewesen sein, wie die der Sphinx es war, als Ödipus das Rätsel löste, ihr Gebot erfüllend und damit sie stürzend."

Auch Maurice Blanchot hat auf diese Leerstelle der Odyssee hingewiesen, ihr Bestehen allerdings anders begründet: "Von jeher fand sich bei der Menschheit das nicht sehr edle Bestreben, die Sirenen und ihre Glaubwürdigkeit zu schmälern, indem man sie rundweg der Verlogenheit bezichtigte; verlogen in ihrem Gesang, trügerisch in ihrem Seufzen, nur angeblich vorhanden, wenn man sie anrührte; so sollten sie beschaffen sein; im Ganzen ohne wirkliches Dasein und auf so kindische Art nichtexistent, daß der gesunde Menschenverstand des Odysseus genügte, sie auszutilgen." Im Unterschied zu Adorno hat Blanchot daher versucht, die Glaubwürdigkeit der Sirenen zu stärken - nicht zuletzt, um so den Raum der Literatur besser erkunden und beschreiben zu können. Keine einfache Aufgabe, denn den Sirenen geht es, Blanchot zufolge, vor allem um Ablenkungen: Durch ihren Gesang trachten sie danach, "aus der menschlichen Zeit ein Spiel zu machen und aus dem Spiel einen ungebundenen Zeitvertreib". Die Sirenen senden also irritierende Signale über das Meer; und die Art und Weise, in der Odysseus diese Signale empfängt, zeugt auch nach Blanchot "von der Macht der Technik". Ihm zufolge gelingt es den Sirenen jedoch, sich selbst dieser Macht zu entziehen. Für Blanchot steht fest: "Den Gesang der Sirenen vernehmen heißt soviel wie aus Odysseus, der man gewesen ist, Homer zu werden."

In dieser Sichtweise gerät die Odyssee ebenso zum "Grabmahl" der Sirenen wie zur Stätte ihrer fortwährenden Wiedergeburt: "Es ist dies ein merkwürdiger Zug oder - sagen wir besser - ein Anspruch der Sage. Sie ‚berichtet' nur sich selber, aber die-ser Bericht bringt im Vorgang des Berichtens das, was erzählt wird, hervor [...]." Diese zwiespältige Rückkehr der Sirenen ereignet sich indes nicht nur im Feld der Literatur und ihrer Kritik (ob als Philosophie oder als Literaturtheorie). Auch die modernen Wissenschaften haben den Gesang der Sirenen vernommen - um ihn sogleich wieder verstummen zu lassen. Diesmal bestand die List darin, den Namen einfach an rätselhafte oder bemerkenswerte Dinge weiter zu reichen. Sirenen "sind" demnach Tiere oder Menschen, deren hintere bzw. untere Extremitäten kaum ausgeprägt bzw. mehr oder weniger verschmolzen sind, aber auch technische Vorrichtungen, die zur Erzeugung exakter Töne dienen. Immerhin wird den Sirenen somit nicht länger ihr "wirkliches Dasein" bestritten. Sie werden der wissenschaftlichen, folglich auch der historischen Untersuchung zugänglich. Dabei geht es zunächst um die Anatomiegeschichte der natürlichen Sirenen, um ihren Körperbau und ihre Stellung zwischen Land und Meer, Trockenem und Feuchtem; sodann um die historische Physiologie jener Artefakte, die eben nicht Gesang, sondern Töne hervorbringen, also um die Form und Funktion von Röhren, Scheiben und Hebeln...

Die Sirenen solchermaßen in ihrer Dinghaftigkeit zu begreifen heißt also, sie erneut um die Effekte ihres Gesangs zu betrügen. Dennoch kann sich auch so ein Raum à la Blanchot eröffnen, ein Zwischenraum, der den Abstand zwischen der Geschwätzigkeit der Diskurse und dem Schweigen der Objekte auszufüllen beginnt. Am Beispiel der Sirenen wollen die ZwischenRäume 6 die beim letzten Treffen unternommene Annäherung an die Dinge ebenso fortsetzen wie die Suche nach Antworten auf die zugehörige Frage, in welche Richtung sich die aktuellen Debatten über material culture bewegen.



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