7-9. Dezember 2001

Experimentalkulturen
Konfigurationen zwischen Lebenswissenschaften, Kunst und Technik (1830-1950)

Konferenz am Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin

Konferenz FlyerUnter "Experimentalisierung" soll im Zusammenhang dieser Tagung allgemein derjenige historische Prozeß verstanden werden, in dessen Verlauf in unterschiedlichen Bereichen von Kultur geregelte Verfahren zur Erzeugung von Erfahrung eingeführt, angewandt und verbreitet werden. In diesem Sinne werden von ihr wichtige Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Experiments erwartet, welche sich sowohl im Hinblick auf die materielle Kultur als auch in bezug auf die historische Semantik auf eine vorfindliche Vielfalt von Experimenten einläßt.



Programm (PDF, 640 KB)





Anders als in den "großen Erzählungen" der Modernisierung geht es somit darum, das dynamische Zusammenwirken von Wissenschaft, Kunst und Technik als einen offenen Zusammenhang zu denken. So soll ausdrücklich nicht schon im vorhinein festgeschrieben werden, was als Experiment und was als Wissenschaft zu gelten hat und was nicht. Vielmehr soll eben der Prozeß nachzuvollzogen werden, in dessen Verlauf sich Aspekte technischer, künstlerischer und wissenschaftlicher Tätigkeit so integrieren und differenzieren, d. h. solche Konfigurationen ausbilden, daß Modernisierungsphänomene wie Mechanisierung, Rationalisierung und Verwissenschaftlichung überhaupt erst greifen können. Mit anderen Worten, Wissenschaft, Kunst und Technik werden in dieser Tagung mit Blick auf den Prozeß der Experimentalisierung auf einer Ebene verortet. So können sie in ihren Differenzen zusammengedacht und im Hinblick auf gemeinsame und unterschiedliche Formationsbedingungen perspektiviert werden.


Thema
Lange Zeit ist in den Geschichtswissenschaften die Vorstellung vorherrschend gewesen, die dynamische Entwicklung moderner Wissenschaft, Kunst und Technik beruhe auf einer Ausdifferenzierung in einzelne, klar voneinander abgegrenzter Entitäten. In den "großen Erzählungen" der Modernisierung werden als Charakteristika dieser Entwicklung die Definition spezifischer Objekte, die Herausbildung klarer Berufsbilder und entsprechender Professionalisierungsstrukturen sowie die Etablierung von deutlich unterscheidbaren Schulen und Paradigmen hervorgehoben. Modernisierung in diesem Sinne heißt zunehmende Spezialisierung, Organisation und Planung, selbst wenn (oder gerade wo) es sich um kreative Tätigkeiten handelt.

Vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen ist diese Vorstellung fragwürdig geworden. Wenn heutzutage Neurowissenschaften und Genforschung von der zunehmenden Durchdringung wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen zeugen und die Etablierung neuer Berufsbilder nach sich ziehen, wenn die Grenzen zwischen traditionellen Kunstgattungen im Zeichen von "Multimedia"-Performances verwischt werden und zur Herausbildung neuer Identitäten führen, dann liegt die Vermutung nahe, daß es auch im Zeitraum von 1830 bis 1950 Prozesse der Konfiguration zwischen Wissenschaft, Kunst und Technik gewesen sind, die ausschlaggebend für die dynamische Entwicklung der Moderne waren. Diese Prozesse, so die Vermutung weiter, wurden von heterogenen Kollektiven getragen, die ihre Wirksamkeit oftmals quer zu den etablierten Disziplinen, Schulen und Branchen entfaltet haben: Experimentalkulturen, die auf die Erfahrung und Erkundung von Differenzen orientiert waren und die ihre Selbstbestimmung nur vor dem Hintergrund der eigenen Heterogenität gewinnen konnten.

Tatsächlich zeigt gerade die Geschichte der Lebenswissenschaften, daß sich die Einführung und Verbreitung experimenteller Verfahren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einem weitverzweigten und vielgestaltigen Prozeß vollzogen hat, bei dem technische Errungenschaften, wissenschaftliche Forschungsarbeit und die Schaffung neuer Erfahrungsräume ineinander griffen. Die "Experimentalisierung des Lebens" (Rheinberger & Hagner, 1993) erweist sich dabei als übergreifende Bewegung, die unterschiedlichste Bereiche moderner Gesellschaften erfaßt und durchdrungen hat. Ähnlich wie die Physiologen, Psychologen und Sprachwissenschaftler, die von 1840 an vermehrt experimentell arbeiteten, entdeckten auch Maler, Bildhauer und Literaten die entscheidende Rolle neuartiger Werkzeuge, Gegenstände und Methoden im Prozeß der künstlerischen Produktion. Angesichts der Zweifel an den Repräsentationsleistungen der Kunst der Jahrhundertwende wird, so kann man vermuten, das Experiment zum gemeinsamen Nenner, auf den die avantgardistischen Bewegungen in Literatur, Malerei und Architektur zu bringen sind. Diese Entwicklung zu einer radikalen Modernität läßt sich in Hinsicht auf Experimentalkulturen nicht nur präziser erfassen als durch den Blick auf die "Technikkultur" oder die "Wissensgesellschaft", sie läßt sich anhand von konkreten Beipielen für solche Kulturen, an denen Wissenschaftler, Künstler und Techniker auf je spezifische Weise Anteil hatten, auch im Detail nachzeichnen.

Es liegt nahe, die Herausbildung von Experimentalkulturen als Resultat von Hybridisierungen zu besuGeschichte der experimentellen Lebenswissenschaften Beispiele dafür, wie bestehende Bereiche experimenteller Forschung in "Bindestrich-Kombinationen" überführt werden, so etwa die physiologische Chemie, die organische Physik oder die physiologische Psychologie. Auch unterlaufen bzw. überschreiten neuartige Disziplinen wie die Psychotechnik, die Biotechnologie und die Informatik gewohnte Grenzziehungen zwischen "reiner" und "angewandter Forschung". Darüberhinaus können im Zwischenraum von belletristischen und wissenschaftlichen Publikationen neue Genres schriftlichen Ausdrucks entstehen: populäre Zeitschriften ebenso wie phantastische Romane.

Doch es hat auch andere Formen gegeben, in denen sich Konfigurationen zwischen Lebenswissenschaften, Kunst und Technik ausgeprägt haben. Hierzu zählt die Einführung neuer, präziserer Instrumente und miniaturisierter Versuchsobjekte ebenso wie die mit dem grenzüberschreitenden Transfer von Wissen einhergehenden Verschiebungen. Das "Wandern" von Instrumenten, Büchern oder Personen durch unterschiedliche nationale und kulturelle Kontexte verdeutlicht, wie humane wie non-humane "Aktanten" (Latour, 1995) schließlich Fragen beantworten können, die ihnen anfänglich gar nicht gestellt wurden. Auch die Durchsetzung neuer Medientechnologien (Photographie, Film) wirkt sich nachhaltig auf künstlerische ebenso wie auf wissenschaftliche Äußerungen aus. In den 1920er und 1930er Jahren eröffnen sich vor diesem Hintergrund auch neue Perspektiven für fächerübergreifende Zusammenschlüsse (Gestalttheorie, Theorien des Systemischen und Allgemeinen, Kybernetik).


Ansatzpunkte
In der Tagung sollen unterschiedlichste Experimentalkulturen mit Blick auf die im Folgenden unterschiedenen, sich tatsächlich aber vielfach überlagernden Ebenen näher untersucht werden:


Objekte
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts fühlen sich Wissenschaftler, Künstler und Techniker zunehmend von Dingen fasziniert, bei denen nicht mehr genau zu entscheiden ist, ob sie einfach oder komplex, natürlich oder künstlich, gegeben oder gemacht, lebendig oder tot sind. Dieser Status kommt den "Froschmaschinen" der organischen Physik ebenso zu wie den Einzellern in der Allgemeinen Physiologie oder den Hypnotisierten der experimentellen Psychopathologie. Er charakterisiert die Photographie als "natürliche Zeichnung" in ähnlicher Weise wie das konstruktivistische Proun als "Umsteigestation von Malerei nach Architektur" (Lissitzky). In vergleichbarer Weise erscheinen Rechenmaschinen als Abkömmlinge einer Domäne zwischen Mathematik und Technik, zwischen Symbolik und Materie.

In welcher Weise sich Experimentalkulturen um epistemische, ästhetische oder technische Objekte kristallisieren, sei kurz an einem der genannten Beispiele veranschaulicht: Seit der Romantik galten Protozoen (Infusorien, Amöben, Ciliaten usw.) als kleinste Lebewesen, die auf der Grenze zwischen Pflanzen- und Tierreich stehen. Zum Gegenstand experimenteller Forschung wurden sie jedoch erst, als ihr Status als einzellige Organismen gesichert war. Derart als brauchbares Modell für die Zelle etabliert, eröffneten die "Elementarorganismen" um 1880 vielfache Perspektiven für experimentalphysiologische und -psychologische Forschungen. Mit einer Kombination aus mikroskopischen und elektrophysiologischen Verfahren wurden Protozoen im Hinblick auf die einfachsten Strukturen und Funktionen organischen Lebens untersucht: Fortpflanzung, Ernährung, Bewegung, aber auch Intelligenz, Wille und Bewußtsein. In annähernd dem selben Zeitraum fungierten die Elementarorganismen als wiederkehrendes Motiv in Literatur und Kunst, bei Gustave Flaubert und Odilon Redon ebenso wie bei Gottfried Benn. In die psychologische Theoriebildung gehen sie bei Freud als einfaches Modell des psychischen Apparats ein.

Über welche besonderen Eigenschaften aber muß ein Objekt verfügen, um solchermaßen zum Attraktor für unterschiedlichste "Experimente" werden zu können, sei es in der Laborwissenschaft, sei es in der künstlerischen Avantgarde oder in der avancierten Theorie? Wie wird die Entscheidung für ein solches Objekt getroffen und die Ablehnung eines anderen begründet? Welche Möglichkeiten eröffnet es, aber wie begrenzt es auch die Perspektiven experimenteller Unternehmungen?


Verfahren
Konfigurationen zwischen Lebenswissenschaften, Kunst und Technik bilden sich im Zusammenhang mit bestimmten Verfahren heraus. Neben sprachlichen Praktiken (Jargons, Metaphern usw.), die oft den Austausch über Fächer- und Bereichsgrenzen hinweg begünstigt haben, sind es immer wieder maschinelle Verfahren im weitesten Sinn gewesen, die sich dabei als produktiv erwiesen haben. Aufgrund ihrer Zusammensetzung aus mechanischen, organischen und theoretischen Komponenten haben vor allem Experimentalanordnungen die konkrete Begegnung und Zusammenführung unterschiedlichster Personen und Dinge begünstigt.

Was von dem Physiologen Étienne Jules Marey um 1880 als "graphische Methode" prominent gemacht wurde, bezog sich auf eine Gesamtheit von Verfahren, die zwischen epistemischem und technischem Funktionieren schwankten. Die Vorgeschichte des Kymographen reicht bekanntlich in die Ballistik und die Energietechnik (Indikatordiagramm der Dampfmaschine) zurück (Brain & Wise, 1994). In den Laboratorien der Physiologen wurden die von Instrumentenmachern weiterentwickelten Wellenschreiber zur Erforschung von Grundfunktionen organischen Lebens eingesetzt (Atmung, Nervenleitung, Blutzirkulation usw.). Aber parallel dazu entfalteten sich auch die Verfahren der mechanischen Zeichung, die von Künstlern und anderen Berufsgruppen, zum Teil aber auch vom breiten Publikum eingesetzt wurden (Pantograph, Physionotrace, Photographie usw.). Ähnliche instrumententechnisch gestützte Verbindungen lassen sich in bezug auf die einschlägigen Verfahren der Zeitmessung in den Lebenswissenschaften aufzeigen. Diese verbinden Physiologie und Psychologie nicht nur mit Astronomie und Uhrenhandwerk, sondern auch mit Linguistik, Psychoanalyse, Philosophie und Ökonomie.

Trotz dieser Verbindungen werden die mit Hilfe solcher Verfahren hergestellten Produkte einerseits als Wissenschaft (Kurven, Daten, Meßwerte), andererseits als Kunst identifiziert (Linien, Zeichnungen, Bilder). Mit welchen Argumenten werden solche Zuordnungen getroffen? Unter Inanspruchnahme welcher Kompetenzen wird im Namen der Kunst gesprochen oder im Namen der Wissenschaft, und wo werden die Übergange zwischen den Bereichen greifbar?


Territorien
Die Experimentalisierung des Lebens geht mit der Einrichtung von symbolischen und realen "Räumen des Wissens" (Rheinberger, Hagner & Wahrig-Schmidt, 1997) einher. Mit Blick auf die realen Räume kann vielleicht genauer gesagt werden: Konfigurationen zwischen Lebenswissenschaften, Kunst und Technik finden auf bestimmten Territorien statt. Sie siedeln sich in diesen an oder bringen sie erst hervor. Neben den umgrenzten Stätten, an denen sich Experimentalkulturen zunächst verwirklichten (das Labor, die Werkstatt, das Atelier), gab es auch weitläufigere Gebiete, die ihrem Aufkommen und ihrer Verbreitung günstig (oder abträglich) waren. Als exemplarisches Territorium erscheint dabei die moderne Stadt, die humane und non-humane Aktanten unterschiedlichster Abstammung in Interaktionen mit großen Ereignispotentialen treten ließ. So bot das Leipzig der 1880er Jahre mit seinen Hörsälen, Konzerthäusern und Museen ebenso wie mit seinen Cafés, Restaurants und öffentlichen Plätzen vielfätige Stätten, an denen sich die Milieus von Wissenschaftlern, Künstlern und Technikern vermischen konnten. Aber auch soziale Formationen, die ihre Mitglieder bewußt neu anzuordnen versuchten (Kommunen, Vereine usw.), sind als Experimente bezeichnet worden. So hat sich das Bauhaus in Weimar nicht nur als Unterrichts- und Arbeitsstätte, sondern ausdrücklich auch als gemeinsamer Lebensraum organisiert. Aus kritischer und pessimistischer Sicht sind solche Unternehmungen oft als Bedrohung von Kultur und als gefährliche Utopie verurteilt worden. Trotzdem gab es immer wieder den Versuch, neue Konfigurationen hervorzubringen, um Innovationen zu ermöglichen: sei es durch die Programme der künstlerischen und sozialen Avantgarde, durch die Einrichtung neuer Formen wissenschaftlich-technischer Kooperation und Kommunikation oder die architektonische Abgrenzung spezieller Lebenswelten. Doch welche Zwischenschritte sind nötig, damit aus den "Experimentalkulturen" in Wissenschaft, Kunst und Technik auch kulturelle Experimente werden?



Literatur

Brain, R. M. and M. N. Wise (1994). Muscles and Engines: Indicator Diagrams and Helmholtz's Graphical Methods. Universalgenie Helmholtz: Rückblick nach 100 Jahren. Ed. L. Krüger. Berlin, Akademie-Verlag: 124-145.
Latour, B. (1995). Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Berlin, Akademie Verlag.
Lenoir, T., Ed. (1998). Inscribing Science: Scientific Texts and the Materiality of Communication. Stanford: Stanford University Press.
Rheinberger, H.-J. and M. Hagner, Eds. (1993). Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850-1950. Berlin, Akademie-Verlag.
Rheinberger, H.-J., M. Hagner, et al., Eds. (1997). Räume des Wissens: Repräsentation, Codierung, Spur. Berlin, Akademie-Verlag.


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