Vermessung des Blickfelds und des Augenblicks. Von der frühen experimentellen Leseforschung zur Mustererkennung. 1860-1960.


Lesen gehört mit Sicherheit zu einer der ältesten kulturtechnischen Leistungen. Dabei mögen Praktiken des Lesens von Anbeginn an mit theoretischen Betrachtungen an verschränkt gewesen sein. Nichtsdestotrotz kommt um 1900 eine völlig anders geartete Epstemologie des Lesens auf.

Durch neuartige experimentelle Instrumente erweist sich der Prozeß des Lesens nicht mehr nur als eine Fähigkeit, die einmal gelernt als gegeben anzusehen ist, sondern die Bedingungen einzelner Leseakte werden in einem Ausmaß fragwürdig, die sie schließlich zum wissenschaftlich umforschten Gegenstand werden lassen.

Um diese Entwicklung herauszustellen, wird meine Forschung zunächst auf eben jenen Wendepunkt gerichtet sein, das heißt auf die Zeit als insbesondere Hermann von Helmholtz Leseakte zur Konstituenten seiner physiologischen Experimente erhob und sie als intuitiv völlig durchschaubar ansah. Dabei schien das Lesen von Zeichen der Introspektion nicht nur als völlig transparent, sondern Zeichensysteme generell forcierten zu Modellen, die Wahrnehmungen von Sinneseindrücken und Perzeptionen jeglicher Modalität aufzeigen sollten.

Die Zäsur, die das Verhältnis von Physiologie und Psychologie neu zu ordnen zwang, geht dabei vor allem von Rekonfigurationen auf experimenteller Ebene aus. Im Zusammenhang mit neuen zeitgebundenen Medien wie der Kinematographie änderte sich die experimentelle Perspektive dramatisch. Experimentelle Evidenzen sind nun nicht mehr Sache des Augenscheins und der Aufmerksamkeit, sondern von weiter oder enger gefaßten Zeitfenstern, die durch Medien gesetzt werden. Insbesondere die Experimente von Benno Erdmann und Raymond Dodge zeigen, daß die nun einsetzende Leseforschung durch eine doppelte Bewegung gekennzeichnet ist. Auf der einen Seite führt die instrumentell erfaßte Wahrnehmung von Zeichen zu einem Wissen des Sehens, das die konstitutive Rolle zeitlicher Momente aufdeckt. Auf der anderen Seite offenbart die Wahrnehmung der Zeichen unter experimentellen Rahmenbedingungen, daß ein Bereich adressiert werden kann, wo einzelne Zeichen als Grundeinheiten nicht schlicht gegeben sind, sondern erst verarbeitet werden müssen. D.h. Zeichen fungieren im Erkennungsprozeß als eine Matrix, die Perzeptionen von fragmentierten und zersprengten Elementen jenseits von semantischen Zuordnungen adressierbar macht. Diese Elemente scheinen nur für Augenblicke auf und deuteten auf Bereiche hin, um deren perzeptionell bedingte Unsichtbarkeit man zuvor gar nicht wußte.

Wagt man einen größeren Sprung in Forschungszusammenhänge, wie vor allem Warren McCulloch, Jerome Y. Lettvin, Humberto Maturana und Walter Pitts zu Zeiten der Kybernetik stifteten, dann sind die dominierenden Medien nun andere. So wird den Sehprozessen nicht mehr allein mit filmischen Mitteln zu Leibe gerückt, sondern Elektronenmikroskope und Computersysteme bilden die experimentelle Basis. Die Netzhaut wird nun zum Hauptschauplatz des Geschehens. Nicht mehr Augen- oder gar Körperbewegungen lassen Rückschlüsse auf kognitive Vorgänge zu, sondern das Interesse richtet sich unmittelbar auf Nerventätigkeiten. Hinsichtlich der Versuchssubjekte ist man wieder beim Frosch angekommen, dem Versuchstier für Nervenreizungen par excellence. Selbst Gehirnaktivitäten stehen nun bei der Erforschung von Sehprozessen zurück. Vielmehr wird die Retina des Frosches als eigenständiges neuronales Netz aufgefaßt, mit einer inharenten Logik, die visuelle Reize in qualitative Weise kodiert. Gleichzeitig existiert die Logik auf dem Papier in Form mathematischer Modelle und als mögliche elektronische Schaltung. Der Komplex, der in den Experimenten von McCulloch und seinen Mitarbeiter hervortritt, scheint vor allem durch zwei Aspekte bestimmt: Zum einem erfordern neue Techniken den radikalen Bruch mit dem unmittelbar noch zuvor vertretenen Forschungsstand und zum anderen bringen epistemische Entwürfe wieder Modelle ins Spiel, wie sie ein Jahrhundert zuvor erstmals formuliert wurden. Gerade hinsichtlich solcher epistemischen "Faltungen" scheint ein breit- und gleichzeitig tiefgreifend angelegter Untersuchungszeitraum, seine methodische Berechtigung zu erfahren. Dann wird man auch nicht als arbiträre Wahl eines Forschungsgegenstandes verbuchen müssen, daß Lettvin sich gegen Ende seiner wissenschaftlichen Karriere mit Hilfe von Computersystemen dem Leseprozeß und Dyslexien zu wand.