Graphische Systeme (1830 - 1930)

Das Projekt behandelt die Bedeutung visueller Repräsentationen für die Experimentalisierung des Lebens. Gegenstand der Untersuchung sind graphische, photographische und kinematograpische Aufzeichnungen von Phänomenen des Lebendigen (wie Atmung, Herzschlag, willkürliche und unwillkürliche Bewegungen der Hand, unsichtbare Emanationen des menschlichen Körpers). Diese Aufzeichnungen galten als unmittelbare Einschreibungen des Lebendigen, da sie in direktem physischem Kontakt zu den Untersuchungsobjekten hervorgebracht wurden. Einerseits galten die so gewonnenen Spuren als "Selbstregistrierung" der fraglichen Phänomene, andererseits mußten sie durch Techniken zuallererst hervorgebracht werden, die ihrerseits unbeabsichtigte und oftmals nur schwer kontrollierbare Nebeneffekte produzierten und so den ikonographischen output irritierten. So wurden die Aufzeichnungsinstrumente, die eine unmittelbare Übertragung der Phänomene garantieren sollten, ihrerseits zum Gegenstand von Experimenten. Das Projekt untersucht dieses spezifische Oszillieren zwischen Fakt und Artefakt, zwischen Aufzeichnungen des Lebendigen und ihrer Abhängigkeit von Techniken der Übertragung. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit betrifft den Status der sogenannten graphischen Methode als "wissenschaftlicher Weltsprache", wie O. Langendorff, einer ihrer Protagonisten, es formuliert hat. Es schien, als könnten die graphischen Aufzeichnungsinstrumente jedes beliebige Phänomen visualisieren und in ein spezifisches Muster aus Linien und Kurven überführen (die menschliche Stimme, die Arbeitsleistung eines Arbeiters, die Struktur eines Gedichts oder einer Sinfonie). In Versuchen zur Physiologie und Pathologie der Handschrift wurde die Hand und der Stift, den sie über das Papier lenkt, zu einem Instrument der Aufzeichnung. Die gewöhnliche Handschrift wurde zu einer fixierten und unbewussten Aufzeichnung spezifischer Körperbewegungen und cerebraler Vorgänge. Das Konzept der Selbstregistrierung blieb eben nicht auf das Gebiet der physiologischen Graphik beschränkt, sondern fand auch Anwendung im Hinblick auf andere kulturelle Techniken. Die Untersuchung geht hier der Frage nach, inwieweit dabei traditionelle Unterscheidungen zwischen "manueller" und "mechanischer" Aufzeichnung aufgehoben oder neu definiert wurden.